Noch im Februar gingen etliche Wirtschaftsforschungsinstitute in ihren Basisszenarien davon aus, dass sich der seit Mitte 2021 aufbauenden Inflationsdruck im Laufe des Jahres 2022 wieder abschwächt [Blogbeitrag vom 18. Februar]. Doch spätestens seit dem militärischen Angriff Russlands auf die Ukraine Ende Februar haben sich die damals schon existierenden pessimistischen Inflationsszenarien realisiert. Wie die Daten der OECD in Abbildung 1 zeigen, sind in vielen größeren Volkswirtschaften die Inflationsraten seither weiter gestiegen. Und auch wenn die OECD in ihrer Juni-Vorhersage einen spürbaren Rückgang der Teuerung bis Ende 2023 erwartet, dürfte es nicht verwundern, dass dieses relativ günstige Szenario mit erheblichen Unsicherheiten behaftet ist.

Abbildung 1

Die OECD (2022, S. 34) führt die weiter steigende Teuerung teilweise auf den Krieg in der Ukraine zurück, der den noch Anfang dieses Jahres erhofften Preisrückgang für Lebensmittel, Energie und viele andere wichtige Rohstoffe zunichte gemacht hat. Darüber hinaus hat er die noch aus der Corona-Pandemie herrührende Problematik nicht funktionierender Lieferketten verstärkt. Weiterhin wird das EU-Embargo gegen russische Kohle- und Erdölexporte dazu beitragen, dass die Energiepreise für einige Zeit auf hohem Niveau verbleiben.

Die OECD (2022, S.40-51) nennt auch die derzeitigen Risiken, die dazu führen könnten, dass der von ihr für 2023 prognostizierte Rückgang der Inflation ausbleibt. Dazu gehören unter anderem:

  • Die russischen Energieexporte in die EU könnten vollständig zum Erliegen kommen. Da viele EU-Staaten in substanziellem Ausmaß von russischer Energie, insbesondere Erdgas, abhängig sind, könnten die Energiepreise weiter steigen. Darüber hinaus könnte es zu Produktionsrückgängen in energieabhängigen Industriezweigen mit komplexen und deshalb schwer zu prognostizierenden negativen Rückwirkungen auf die Gesamtwirtschaft kommen.
  • Die Produzentenpreise könnten aufgrund hoher Rohstoffpreise stärker steigen als erwartet und mit gewisser Verzögerung die Konsumentenpreise zusätzlich nach oben treiben.
  • Sogenannte „Zweitrunden“-Effekte könnten dazu führen, dass sich höhere Inflationsraten über längere Zeit festsetzen. Ein gewichtiger Faktor hierbei sind steigende Inflationserwartungen. Diese könnten z.B. zu höheren Lohnforderungen führen und eine Lohn-Preis-Spirale verursachen.

Auch wenn Zentralbanken keine direkten Handhabe gegen Inflationstreiber haben, die von der Angebotsseite kommen (hier v.a. Lieferketten- und Energieengpässe), können sie dennoch versuchen, die für den weiteren Verlauf kritischen Inflationserwartungen günstig zu beeinflussen. Wenn sie glaubwürdig vermitteln können, dass die Preissteigerungen nachlassen, sobald sich die angebotsseitigen Verknappungen auflösen, gibt es für die Öffentlichkeit keinen Grund, ihre mittelfristigen Inflationserwartungen nach oben zu korrigieren. Beispielsweise könnten in diesem Fall Lohnsteigerungen moderater ausfallen, so dass von diesen keine weiteren Preissteigerungsimpulse ausgehen.

Obwohl sich in den OECD-Ländern die Prognosen professioneller Institutionen noch im Rahmen der Zielinflationsraten der Zentralbanken bewegen, sind die kurzfristigen Preiserwartungen der Konsumenten oftmals gestiegen (OECD, 2022, S. 51). Beispielsweise haben sie sich in der Eurozone deutlich nach oben bewegt: Während Anfang 2020 die Preissteigerungserwartungen der Verbraucher für die nächsten 12 Monate je nach Einkommensgruppe noch zwischen 2,6 % und 4, 6% lagen, variierten sie Anfang 2022 bereits zwischen 7,4 % und 10,2 % (OECD, 2022, S. 26).

Das derzeitig wichtigste Instrument der Zentralbanken, die Inflationserwartungen niedrig zu halten, ist die Beendigung und Umkehrung ihrer in Folge der Finanzkrise 2007 stark expansiv ausgerichteten Geldpolitik.

Viele große Notenbanken haben seit 2007 die von ihnen direkt bereit gestellte Geldmenge, die so genannte Geldbasis, erheblich ausgeweitet, indem sie in großem Stil staatliche und andere Wertpapiere aufgekauft haben. Damit haben sie dem Bankensystem zusätzliche Liquidität zur Verfügung gestellt, u.a. um die Kreditvergabe an Unternehmen und damit das Wirtschaftswachstum zu unterstützen. Abbildung 2 zeigt beispielhaft die Ausweitungen der Geldbasis zwischen 2007 und 2021 für Großbritannien, die USA und den Euroraum.

Abbildung 2

Um im Zuge der Inflationsbekämpfung die Inflationserwartungen zu senken, haben inzwischen viele große Notenbanken damit begonnen, ihre Wertpapieraufkäufe zu reduzieren oder sogar den Bestand insgesamt zu verringern.

Abbildung 3

Aus Abbildung 3 wird ersichtlich, dass unter den gezeigten Zentralbanken die Bank of Japan und die Europäische Zentralbank (EZB) zuletzt noch die größten Aufkäufe getätigt haben. Allerdings ist Japan ein Sonderfall mit seit Jahren sehr niedriger Inflation, die auch im zweiten Quartal dieses Jahres auf lediglich 2,2 % angestiegen ist.

Betrachtet man zusätzlich die zweite Möglichkeit von Zentralbanken, der Öffentlichkeit ein entschlossenes Vorgehen gegen die Inflation zu signalisieren, offenbart sich die im internationalen Vergleich sehr zurückhaltende Geldpolitik der EZB.

Abbildung 4

Abbildung 4 zeigt, dass außer Japan lediglich der Euroraum an seiner Tief- bzw. Nullzinspolitik festgehalten hat. Abgesehen vom Ausnahmefall Japan haben alle anderen betrachteten Zentralbanken spätestens im Mai dieses Jahres damit begonnen, ihre Leitzinsen zu erhöhen.

Zwar hat die EZB in ihrer letzten regulären Ratssitzung am 9. Juni beschlossen, die Nettoaufkäufe von Wertpapieren am 1. Juli einzustellen und voraussichtlich den Leitzins in ihrer Juli-Sitzung auf 0,25 % zu erhöhen (Europäische Zentralbank, 2022b). Dennoch bleiben diese Schritte im Vergleich zu den anderen Zentralbanken moderat, so dass sich die Frage stellt, warum die EZB angesichts einer historisch hohen Inflationsrate von 8,1 % im Mai so zögerlich handelt.

Ein Grund hierfür könnte die Befürchtung sein, dass eine beschleunigte geldpolitische Straffung die hochverschuldeten Staaten des Südens, insbesondere Italien, in Bedrängnis bringen könnte. Dafür spricht die ad hoc einberufene Ratssitzung der EZB am 15. Juni, nur wenige Tage nach der regulären Juni-Sitzung. Auf dieser wurde beschlossen, „neuerlichen Fragmentierungsrisiken entgegenzuwirken“ (Europäische Zentralbank, 2022a). Damit wurde dem Umstand Rechnung getragen, dass die Zinssätze für Staatsanleihen südlicher Eurostaaten unmittelbar nach dem 9. Juni relativ zum Zinssatz deutscher Staatsanleihen gestiegen sind. Die EZB möchte einem Anstieg dieses sogenannten Zinsspread dadurch entgegenwirken, dass die während der letzten Jahre aufgekauften Staatsanleihen Deutschlands und anderer eher solider Eurostaaten bei Fälligkeit in Staatsanleihen der südlichen Staaten reinvestiert werden. Dadurch soll deren Zinsabstand reduziert, die Zinszahlungen niedrig gehaltenund somit die Schuldentragfähigkeit dieser Staaten gewährleistet werden.

Für die kommenden Monate sind folgende Szenarien denkbar:

  • Die Inflation sinkt allmählich in Richtung Zielrate von 2 %, ohne dass die Zinsspreads spürbar steigen. Da dieses günstige Szenario vermutlich nur dann eintreten kann, wenn die EZB ihren Gesamtbestand an Staatsanleihen im Wesentlichen beibehält, bleiben mittelfristig hohe Inflationsrisiken bestehen. Diese könnten sich z.B. dann realisieren, wenn die in den letzten Jahren geschaffene Liquidität aufgrund umfangreicher Staatsausgaben vermehrt in den Wirtschaftskreislauf gerät.
  • Die Inflation sinkt, aber die Zinsspreads steigen spürbar. Die Schuldentragfähigkeit der südlichen Eurostaaten könnte von den Finanzmärkten zunehmend in Frage gestellt werden. Um ein Auseinanderbrechen des Euros zu vermeiden, könnte nach Vorbild des Corona-Wiederaufbaufonds ein weiterer Hilfsfonds mit gemeinschaftlicher Schuldenaufnahme und Transferzahlungen an die gefährdeten Staaten eingerichtet werden.
  • Die Inflation geht nicht signifikant zurück. In diesem Fall würde der politische Druck wachsen, zu härteren geldpolitischen Maßnahmen zu greifen und gegebenenfalls auch den Bestand an Staatsanleihen abzusenken. Spätestens wenn sich die angebotsseitigen Inflationstreiber aufgelöst haben (Corona, Ukraine-Krieg), ohne dass die Inflation spürbar sinkt, könnte die EZB gezwungen sein zu handeln. Folglich würde es auch in diesem Szenario früher oder später zu steigenden Zinsspreads kommen mit entsprechenden Auswirkungen auf die Schuldentragfähigkeit und der Notwenigkeit, zur Rettung der Eurozone neue gemeinsame Schulden aufzunehmen.

Außer im günstigen ersten Szenario dürften die politischen Widerstände in den nördlichen Eurostaaten für einen neuen Hilfsfonds erheblich sein, auch deshalb, weil die Inflation bei den Wählern bereits zu schmerhaften Kaufkraftverlusten geführt hat.

Die nächsten Monate werden also zeigen, ob es der Euro-Geldpolitik gelingt, gleichzeitig die Zinsspreads niedrig zu halten und die Inflation zu reduzieren, oder ob eine Zuspitzung der geld- und wirtschaftspolitischen Lage zu einem erneuten Aufflammen der Eurokrise führt.

 

Literaturverzeichnis

Europäische Zentralbank. (2022a). Erklärung nach der Ad-hoc-Sitzung des EZB-Rats. Verfügbar unter: https://www.ecb.europa.eu/press/pr/date/2022/html/ecb.pr220615~2aa3900e0a.de.html

Europäische Zentralbank. (2022b). Monetary policy decisions. Verfügbar unter: https://www.ecb.europa.eu/press/pr/date/2022/html/ecb.mp220609~122666c272.en.html

OECD (2022), OECD Economic Outlook, Volume 2022 Issue 1: Preliminary version, No. 111, OECD Publishing, Paris, https://doi.org/10.1787/62d0ca31-en