Die Corona-Pandemie ist die zweite existentiell Herausforderung für die Eurozone seit ihrer Gründung vor knapp 21 Jahren. Genau wie bei der Eurokrise der Jahre 2010 bis 2012 droht ein politischer Zusammenbruch von EU und Währungsraum, wenn die ökonomisch und finanziell schwächeren Staaten des Euro-Südens nicht von den stärkeren des Nordens unterstützt werden.

Und wieder stellt sich die Frage, ob, in welchem Umfang und unter welchen Bedingungen die einzelnen Hilfsmittel zur Verfügung gestellt werden sollen.

Die Hilfsprogramme der Europäischen Union

Zu Zeiten der Eurokrise 2010-2012 waren die Kredithilfen der Eurostaaten für Griechenland, Irland, Spanien und Portugal auch deshalb höchst umstritten, weil eigenes Fehlverhalten wie übermäßige Schuldenaufnahme zu Ausbruch und Ausmaß der Krise beigetragen haben. Die Gegner der Rettungsschirme argumentierten u.a., dass die Finanzhilfen Fehlanreize setzten („Moralisches Risiko“), da die Regierungen dadurch nicht die Konsequenzen ihres Fehlverhaltens tragen müssten. Somit würden auch künftig eigentlich notwendige Sparmaßnahmen und Strukturreformen nicht in ausreichendem Umfang getätigt. Ähnlich negative Anreizwirkungen würden durch die massiven, seit 2015 laufenden Staatsanleihen-Aufkäufe der Europäischen Zentralbank (EZB) ausgelöst.

Die Bedenken der Kritiker werden dadurch gestützt, dass die realwirtschaftliche Diskrepanz zwischen Euro-Nord- und Euro-Südstaaten über die letzten zehn Jahre trotz Rettungsschirme und geldpolitischer Unterstützung eher zu- als abgenommen hat [1].

Doch im Gegensatz zur Eurokrise trifft die Virusepidemie die südlichen Staaten der Eurozone ohne deren direktes Zutun. Es handelt sich um einen von außen kommenden, so genannten exogenen Schock, für den die Regierungen keine unmittelbare Verantwortung tragen. Deshalb würden in diesem Fall Finanzhilfen auch nicht notwendigerweise das Moralische Risiko erhöhen, jedenfalls so lange nicht, wie sie lediglich die mit der Corona-Pandemie verbundenen ökonomischen und finanziellen Verwerfungen überbrücken helfen. Ob eine Hilfsmaßnahme lediglich die unverschuldeten Corona-Folgen abdeckt, ist im konkreten Fall freilich schwer zu beurteilen, zumal das Ausmaß der notwendigen Hilfen auch davon abhängt, wie stabil die Ausgangslage vor der Pandemie war, welche wiederum sehr wohl vom vorherigen Regierungsverhalten beeinflusst wurde.

Grundsätzlich dürfte eine Hilfsmaßnahme umso weniger Fehlanreize setzen, desto höher der Grad der Zweckgebundenheit.

Unter diesem Gesichtspunkt ist das am 23. April 2020 von den EU-Staats- und Regierungschefs beschlossene 540 Mrd. Euro Hilfspaket [2] vermutlich mit geringem Moralischen Risiko verbunden:

  • Die EU-Kommission unterstützt die Auszahlung von Kurzarbeitergeld mit bis zu 100 Mrd. Euro. Hierfür nimmt sie Kredite am Kapitalmarkt auf, die sie an die beteiligten Staaten weiterreicht. Die EU-Staaten haften gemeinsam für dieses Programm.
  • Ebenfalls gemeinsam haften die EU-Staaten für einen bis zu 200 Mrd. Euro umfassenden Garantiefonds bei der Europäischen Investitionsbank (EIB). Mit diesem sollen Kredite für mittelständische Unternehmen abgesichert werden.
  • Der Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM) richtet eine Kreditlinie von 240 Mrd. Euro als „Pandemie-Krisen-Hilfe“ ein. Im Gegensatz zur Gewährung eines regulären ESM-Kredits ist diese nicht mit Sparauflagen verbunden. Allerdings dürfen die Gelder nur für direkte und indirekte Gesundheitskosten verwendet werden.

Weiterhin haben sich die Staats- und Regierungschefs in der gleichen Sitzung darauf geeinigt, im Rahmen des EU-Haushaltes ein Wiederaufbauprogramm aufzulegen, für das ebenfalls Geld am Kapitalmarkt aufgenommen werden soll und für das die EU-Staaten gemeinsam haften. Die EU-Kommission wurde damit beauftragt, in den nächsten Wochen hierzu einen konkreten Plan auszuarbeiten.

Unklar und umstritten blieb der Umfang des Programms (ein Arbeitspapier der EU-Kommission enthält z.B. einen Vorschlag in Höhe von 323 Mrd. Euro [3], der französische EU-Industriekommissar Thierry Breton hingegen brachte 1,6 Billionen Euro ins Spiel [2]), welche Sektoren unterstützt werden, und ob die Kredite überhaupt zurückgezahlt werden müssen oder nicht zumindest teilweise Transferleistungen erfolgen sollen.

Konkretisiert wurde die Diskussion zuletzt am 18. Mai durch einen gemeinsamen Vorschlag des französischen Präsidenten Macrons und der deutschen Bundeskanzlerin Merkel. Ihr Hilfsplan sieht einen Umfang von 500 Mrd. Euro vor [4]. Das Geld soll wie bereits am 23. April vereinbart von der EU-Kommission am Kapitalmarkt aufgenommen werden. Die EU-Mitgliedstaaten haften mit ihrem prozentualen Anteil am EU-Haushalt und die Rückzahlung der Kredite erfolgt ab 2028 über einen entsprechend erhöhten EU-Haushalt.

Abgesehen davon, dass es eigentlich ein Verschuldungsverbot für EU-Institutionen gibt [5], ist das Neue am Vorschlag, dass Deutschland einer Auszahlung der Hilfen als nicht rückzahlbare Transferleistungen zugestimmt hat. Zwar soll der Erhalt der Gelder an Bedingungen geknüpft sein, wie beispielsweise die investive Verwendung für Projekte der Digitalisierung oder Klimawandelbekämpfung. Jedoch zeigen die bisherigen Erfahrungen, z.B. hinsichtlich der Einhaltung von Euro-Schulden- und Haushaltsregeln, dass souveräne Staaten nur schwer an übernationale Vorgaben zu binden sind.

Entsprechend negativ fällt die Bewertung des französisch-deutschen Vorstoßes aus Sicht eines möglichen Moralischen Risikos aus. Wenn die Hilfen noch nicht einmal zurückgezahlt werden müssen, gibt es aus Sicht des Empfängerstaates nur wenig Anreize, deren effiziente Verwendung unter allen Umständen sicher zu stellen. Dies gilt insbesondere dann, wenn sich die politischen Entscheidungsträger demokratischen Abstimmungsprozessen unterwerfen müssen.

Aus diesem Grunde ist zu erwarten, dass es gegen den Vorschlag erhebliche Widerstände aus anderen nördlichen EU-Staaten wie den Niederlanden oder Österreich geben wird, die traditionell eine relativ diszipliniertere Fiskal- und Finanzpolitik verfolgen. Ähnliches gilt für die osteuropäischen Mitgliedstaaten, die tendenziell weniger von der Pandemie betroffen sind als die tourismus-orientierten südeuropäischen Staaten und deshalb vermutlich zu den Nettozahlern des Programms gehören würden [4].

Die Hilfsmaßnahmen der Europäischen Zentralbank

Bereits im März hatte die EZB ein umfangreiches Maßnahmenpaket zur geldpolitischen Bekämpfung der negativen Folgen der Pandemie auf die Finanzmärkte beschlossen. Die Beschlüsse [6] führen in ihrer Gesamtheit zu einer quantitativen und qualitativen Ausweitung des seit 2014 bestehenden Programms zum Aufkauf von Wertpapieren (Asset Purchase Programme, APP), dessen umfangreichstes Teilprogramm der Aufkauf von Staatsanleihen ist (Puplic Sector Purchase Programme, PSPP):

  • Zusätzlich zum APP sollen unter dem neu eingeführten Pandemic Emergency Purchasing Programme (PEPP) bis Jahresende staatliche, aber auch nicht-staatliche Wertpapiere im Wert von bis zu 750 Mrd. Euro aufgekauft werden. Im April 2020 kaufte die EZB im Rahmen des bereits bestehenden Aufkaufprogramms APP Wertpapiere im Wert von rd. 38 Mrd. Euro, davon rd. 30 Mrd. Euro Staatsanleihen. Die Aufkäufe unter dem PEPP beliefen sich im April auf rd. 103 Mrd. Euro. Zusammengenommen hatte die EZB Ende April Anleihen im Wert von rd. 2.800 Mrd. Euro in ihrer Bilanz, davon rd. 2.200 Mrd. Euro Staatsanleihen aus dem PSPP [7] [8].
  • Die Anforderungen an die Sicherheit der aufgekauften Wertpapiere werden gesenkt. Unter anderem können unter dem PEPP auch griechische Staatsanleihen erworben werden [9].
  • Bisher wurden Staatsanleihen entsprechend des Kapitalanteils des jeweiligen Staates an der EZB aufgekauft. (Beispiele für die Kapitalanteile bezogen auf die Kapitaleinzahlungen aller Eurostaaten: Deutschland 26,4%, Frankreich 20,4%, Italien 17,0%, Spanien 11,9% [10]). Weiterhin sollten nicht mehr als ein Drittel aller Schulden eines Staates aufgekauft werden. Diese Rahmenbedingungen sollen künftig flexibler ausgelegt werden, falls dies aus Sicht der EZB zum Erhalt der Eurozone notwendig ist. Dies lässt sich z.B. aus dem Wortlaut der EZB-Pressemitteilung zur Einführung des PEPP ableiten [9]:„… The Governing Council will do everything necessary within its mandate. The Governing Council is fully prepared to increase the size of its asset purchase programmes and adjust their composition, by as much as necessary and for as long as needed. It will explore all options and all contingencies to support the economy through this shock. To the extent that some self-imposed limits [Hervorhebung durch den Autor] might hamper action that the ECB is required to take in order to fulfil its mandate, the Governing Council will consider revising them to the extent necessary to make its action proportionate to the risks that we face. The ECB will not tolerate any risks to the smooth transmission of its monetary policy in all jurisdictions of the euro area.”

Die folgenden Abbildungen geben einen Überblick zu Umfang, Struktur und Wirkung der Staatsanleihenaufkäufe im Rahmen des PSPP. Hierbei werden die vier größten Volkswirtschaften Deutschland, Frankreich, Italien und Spanien betrachtet, da deren Zustand entscheidend für die Gesamtentwicklung der Eurozone ist.

Abbildung 1 zeigt den PSPP-Wertpapierbestand insgesamt und aufgeschlüsselt für die vier Staaten. Abbildung 2 setzt den Bestand ins Verhältnis zu den jeweiligen Gesamtschulden. Es wird ersichtlich, dass die EZB bereits substantielle Anteile der begebenen Anleihen übernommen hat. Der hohe Anteil von über 25 % an den Schulden Deutschlands resultiert aus seiner relativ geringen Staatsschuldenquote, der niedrige Anteil an Italiens Verschuldung aus seiner sehr hohen Staatsschuldenquote (Gesamtschulden bezogen auf das Bruttoinlandsprodukt, siehe auch Abbildung 5). Abbildung 3 deutet darauf hin, dass die EZB-Politik der angekündigten und tatsächlichen massiven Nachfrage von Staatsanleihen bisher insofern erfolgreich war, als dass deren Zinsniveau seit 2012 erheblich gesunken ist (auf dem Höhepunkt der Eurokrise 2012 gab der damalige EZB-Präsident Mario Draghi in einer inzwischen berühmten Rede das Versprechen ab, die Eurozone unter allen Umständen zu retten: „Whatever it takes“). Damit werden auch die Zinszahlungslasten der Eurostaaten reduziert. Dies trägt einerseits zur Schuldentragfähigkeit von Frankreich, Spanien und Italien bei, deren Schulden absolut und relativ seit dem Höhepunkt der Eurokrise 2012 weiter gestiegen sind (Abbildungen 4 und 5). Andererseits werden dadurch die Anreize für überfälligen Strukturreformen gemindert. Letzteres gilt im Übrigen nicht nur für die drei mediterranen Eurostaaten, sondern prinzipiell auch für Deutschland.

Abbildung 1

Abbildung 2

Abbildung 3

Abbildung 4

Abbildung 5

Bewertung

Noch Anfang April gab es zwischen den nördlichen und den südlichen Eurostaaten einen heftigen politischen Streit darüber, wie gemeinsam auf die Herausforderungen der Corona-Pandemie reagiert werden soll. Insbesondere Italien warf den nördlichen Staaten mangelnde Bereitschaft zur „Solidarität“ vor und forderte die Einführung von Corona-Bonds mit gemeinsamer Haftung [11]. Mittlerweile haben sich die Wogen geglättet, wohl auch deshalb, weil angesichts des Umfangs der oben beschriebenen Maßnahmen schwerlich von unzureichender Solidarität gesprochen werden kann. Dies gilt vor allem für den bekundeten Willen Deutschlands einen 500 Mrd. Euro umfassenden Wiederaufbaufonds einzurichten, der hinsichtlich des EU-Verschuldungsverbot problematisch ist und dessen Hilfen nicht zurückgezahlt werden müssten.

Doch selbst wenn der französisch-deutsche Wiederaufbauplan aufgrund des Widerstandes anderer nord-, aber auch osteuropäischer Länder abgeschwächt werden sollte und die Hilfsgelder als Kredit ausgezahlt werden, stellen die Maßnahmen in ihrer Gesamtheit offensichtlich einen weiteren Schritt in Richtung einer Haftungs- und Transferunion dar. Aus dieser Perspektive bleibt festzuhalten: Kein Staat wird im Stich gelassen. Ob das auch für die einzelnen Bürger hinsichtlich demokratischer Mitbestimmung, Steuern, Abgaben und künftigem Einkommen gilt, bleibt freilich höchst zweifelhaft.

 

[1] Beilharz, H.-J. (29. Juli 2019). Die Instabilität des Euroraums und seine institutionellen Unterschiede. Abgerufen am 23. Mai 2020 von https://beilharz-economics.de/die-instabilitaet-des-euroraums-und-seine-institutionellen-unterschiede/

[2] Handelsblatt. (23. April 2020). EU-Gipfel billigt das 540-Milliarden-Hilfspaket – keine Einigung zu Euro-Bonds. Abgerufen am 23. Mai 2020 von https://www.handelsblatt.com/politik/international/coronakrise-eu-gipfel-billigt-das-540-milliarden-hilfspaket-keine-einigung-zu-euro-bonds/25737298.html?ticket=ST-1380265-RDeNe24N9Sf6vqefXBzz-ap2

[3] Berschens, R. (23. April 2020). Aufbauprogramm für Europa: Die EU-Regierungschefs wollen und können es bald schaffen. Handelsblatt. Abgerufen am 23. Mai 2020 von https://www.handelsblatt.com/politik/international/analyse-zum-eu-gipfel-aufbauprogramm-fuer-europa-die-eu-regierungschefs-wollen-und-koennen-es-bald-schaffen/25769216.html

[4] Kaiser, T. (19. Mai 2020). Der Merkel-Macron-Plan macht Italien und Frankreich zu Netto-Empfängern. Welt. Abgerufen am 23. Mai 2020 von https://www.welt.de/wirtschaft/article208084711/Konjunkturprogramm-der-EU-Wofuer-Deutschland-haftet.html

[5] Kafsack, H. (23. Mai 2020). Am Ende kommt alles auf Merkel an. Frankfurter Allgemeine Zeitung. Abgerufen am 23. Mai 2020 von https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/wiederaufbau-fonds-am-ende-kommt-alles-auf-merkel-an-16782626.html

[6] Mallien, J. (19. März 2020). Sechs Dinge, mit denen die EZB die Finanzmärkte beruhigen will. Handelsblatt. Abgerufen am 23. Mai 2020 von https://www.handelsblatt.com/finanzen/geldpolitik/geldpolitik-sechs-dinge-mit-denen-die-ezb-die-finanzmaerkte-beruhigen-will/25661594.html

[7] European Central Bank. (2020). Pandemic emergency purchase programme (PEPP). Abgerufen am 23. Mai 2020 von https://www.ecb.europa.eu/mopo/implement/pepp/html/index.en.html

[8] European Central Bank. (2020). Asset purchase programmes. Abgerufen am 23. Mai 2020 von https://www.ecb.europa.eu/mopo/implement/omt/html/index.en.html

[9] European Central Bank. (18. März 2020). ECB announces €750 billion Pandemic Emergency Purchase Programme (PEPP). Press Release. Abgerufen am 23. Mai 2020 von https://www.ecb.europa.eu/press/pr/date/2020/html/ecb.pr200318_1~3949d6f266.en.html

[10] European Central Bank. (30. Januar 2020). Capital subscription. Abgerufen am 23. Mai 2020 von https://www.ecb.europa.eu/ecb/orga/capital/html/index.en.html

[11] Kaiser, T. (10. April 2020). Der Streit um die Corona-Bonds ruht nur über Ostern. Welt. Abgerufen am 23. Mai 2020 von https://www.welt.de/wirtschaft/article207178985/Kompromiss-der-EU-Finanzminister-Der-Streit-um-die-Corona-Bonds-ruht-nur-ueber-Ostern.html