In diesem Blog möchte ich über die aktuellen Entwicklungen im Euroraum informieren und gleichzeitig beleuchten, was diese Vorgänge für die Zukunft des Währungsraums bedeuten könnten.
Dabei soll der Fokus auf die nach meiner Ansicht wesentlichen Entwicklungen gelegt werden.
Die Eurozonen-Thematik ist aus wirtschaftswissenschaftlicher Perspektive besonders interessant, da es sich dabei um einen noch offenen, hoch dynamischen polit-ökonomischen Prozess handelt. Man kann gewissermaßen am lebenden Objekt studieren, wie Politik und Ökonomie miteinander wechselwirken.
Ausgangspunkt für die Beurteilung der Vorgänge soll ein Arbeitspapier von mir sein (Notwendige Bedingung für das Überleben der Eurozone: konsequente Demokratisierung). In ihm gehe ich auf die Ursachen der Euro-Krise und auf die aktuelle ökonomische Lage im Währungsraum ein. Außerdem entwickle ich ein aus meiner Sicht plausibles Zukunftsszenario.
Die wesentlichen Erkenntnisse aus dem Arbeitspapier sind die folgenden (dort finden sich auch die Quellen für die Aussagen):
- Die akute Phase der Eurokrise ist seit 2012 vorüber und seit Kurzem zieht die Konjunktur im Euroraum nach Jahren der Stagnation wieder an.
- Jedoch sollten diese Tatsachen nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Währungsraum nach wie vor ein hoch fragiles Gebilde ist, das ohne die seit 2012 betriebene extrem expansive („lockere“) Geldpolitik der Europäischen Zentralbank (EZB) nicht überlebt hätte. Expansiv bedeutet, dass der Leitzins sehr niedrig ist (derzeit 0 Prozent) und die EZB Staatsanleihen in großem Umfang aufkauft (bisher für rund 2.000 Mrd. Euro).
- Die Staatsanleihen-Aufkäufe der EZB senken die Zinslast der Eurostaaten und wirken deshalb ähnlich wie die Kredite und Bürgschaften, die während der akuten Phase der Eurokrise den südeuropäischen Krisenstaaten gewährt wurden.
- Die politische und wirtschaftliche Diskussion um die langfristige Stabilisierung der Eurozone setzt bei der Erkenntnis an, dass es sich bei ihr vermutlich nicht um einen so genannten „Optimalen Währungsraum“ handelt. Das heißt, der Integrationsgrad der Produkt-, Arbeits- und Kapitalmärkte führt nicht zu einem automatischen Ausgleich, wenn einzelner Mitgliedsländer von wirtschaftlichen Ereignissen unterschiedlich stark getroffen werden. Dadurch steigt beispielsweise das Risiko von Staatsinsolvenzen oder langanhaltenden wirtschaftlichen Problemen wie struktureller Arbeitslosigkeit.
- Eine Gruppe von Politikern und Ökonomen – hauptsächlich aus den „Kernstaaten“ der Eurozone (z.B. Deutschland oder Niederlande) – möchten dieses Problem lösen, indem genügend Anreize für die südeuropäischen Krisenstaaten gesetzt werden, sich durch Strukturreformen den Kernstaaten anzunähern. Genügend Anreize könnten nur dadurch gesetzt werden, dass jeder Staat für seine Finanzen selbst verantwortlich bliebe und nicht im Notfall von anderen Staaten gerettet würde (gemäß der „No-Bail-Out“-Bestimmung des Maastricht-Vertrages).
- Die andere Gruppe von Politikern und Ökonomen (z.B. der französische Präsident Macron) argumentiert im Sinne der Euro-Südstaaten, dass Finanztransfers und Haftungsübernahmen notwendig seien, da den Staaten durch die Aufgabe ihrer eigenen Geldpolitik ein unverzichtbares wirtschaftspolitisches Instrument genommen worden sei. Außerdem handele es sich nicht um dauerhafte Transfers, sondern lediglich um eine Form der Risikoteilung: Wenn es den Kernstaaten einmal wirtschaftlich schlechter gehe als den Euro-Südstaaten würden Transfers in die Gegenrichtung erfolgen.
- Meine persönliche Einschätzung ist, dass sich die zweite, südeuropäische Gruppe allmählich politisch durchsetzen wird. Auch hier ist ein wesentlicher Grund die EZB, die durch ihr Target-Überweisungssystem und Staatsanleihen-Aufkäufe bereits einen Grad an Schulden-Vergemeinschaftung realisiert hat, der eine Auflösung der Währungsunion für die Kernstaaten politisch und ökonomisch teurer machen würde als für die Euro-Südsaaten. Unter anderem deshalb haben letztere eine höhere Verhandlungsmacht.
- Aufgrund dieser Erwägungen halte ich ein Zukunftsszenario für wahrscheinlich, bei dem die bestehenden Institutionen zur Haftungsübernahme, insbesondere der Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM), Stück für Stück ausgebaut werden, so dass es die meisten Wähler und Politiker kaum bemerken. Weitere Instrumente werden hinzutreten wie z.B. ein gemeinsamer Euro-Finanzminister, der für Fiskaltransfers zwischen den Staaten zuständig ist. Der Nachteil ist, dass dadurch tatsächlich die Anreize für Strukturreformen spürbar verringert werden und somit die Transfers vom Kern in den Süden von dauerhafter Natur sein werden (wie z.B. zwischen Nord- und Süditalien oder beim deutschen Länderfinanzausgleich).
- Die Anreize für Strukturreformen werden durch Einrichtungen wie einen Euro-Finanzminister reduziert, weil es zu einem Auseinanderfallen von Haftung und Kontrolle kommen würde. Da kein Staat der Eurozone bereit ist, seine Souveränität zu Gunsten eines Euro-Finanzministers aufzugeben, verbleibt die ultimative Kontrolle über die Verwendung von Unterstützungsgeldern bei der jeweils unterstützen Regierung. Die Haftung für eine möglicherweise nicht effiziente Verwendung trägt aber die Gemeinschaft, weil das Geld gemeinschaftlich bereitgestellt wird. Diese Konstellation führt zu einem so genannten „Moralischen Risiko“: Unabhängig von Kultur, Nation und sozialem Stand etc. neigen Menschen dazu, fremdes Geld weniger sorgsam auszugeben als das eigene.
- Verstärkt wird die Verstetigung von Transfers durch die signifikant schlechtere institutionelle bzw. strukturelle Verfasstheit der Euro-Südstaaten. Hier sind vor allem die Mängel in der Korruptionsbekämpfung hervorzuheben.
- Wenn man entsprechend dieser Überlegungen davon ausgeht, dass die strukturell bedingten Ungleichgewichte in der Eurozone über Jahrzehnte andauern werden, hängt das Überleben des Euros von sehr vielen Unwägbarkeiten ab. (Zu der Möglichkeit jahrzehntelanger Ungleichgewichte: Die Arbeitsproduktivität Ostdeutschlands hat im Jahre 2015, also 25 Jahre nach der Gründung eines gesamtdeutschen Währungsraums (Deutsche Einheit 1990), erst 74 % des Westniveaus erreicht hat, wobei die Transferzahlungen vom Westen in die neuen Länder im Zeitraum rd. 70 Mrd. Euro pro Jahr betrugen.)
- Die Nagelprobe wird die nächste größere Wirtschaftskrise sein, bei der die EZB die Eurozone nur dann stabilisieren kann, wenn sie vorher ihre Geldpolitik normalisiert hat. Weiterhin darf diese Wirtschaftskrise zumindest Deutschland nicht erheblich und nicht über einen längeren Zeitraum treffen. Denn bei steigender Arbeitslosigkeit und einbrechenden Steuereinnahmen werden ESM-Rettungspakete für Südeuropa im Umfang vieler Milliarden Euro den Wählern nur schwer vermittelbar sein.
- Abgesehen von einer Wirtschaftskrise hängt das Überleben der Eurozone insbesondere davon ab, ob es der EZB trotz ihrer lockeren Geldpolitik gelingt, die Inflation dauerhaft niedrig zu halten und ob Südeuropa bald die hohe (Jugend-) Arbeitslosigkeit in den Griff bekommt.
Natürlich kann niemand vorhersagen, wie es letztlich mit der Eurozone weitergehen wird.
Es ist aber wahrscheinlich, dass die struktur- und wettbewerbsschwachen Länder des Südens viele Jahre oder sogar dauerhaft auf die eine oder andere Weise finanziell unterstützt werden müssen, wenn man ein Auseinanderbrechen des Euroraums verhindern möchte.
Rein ökonomisch wäre dagegen nichts einzuwenden, wenn der gesamtwirtschaftliche Nettoeffekt für alle Staaten positiv wäre. Für die Kernstaaten würde das bedeuten, dass die Vorteile aus der Währungsunion stärker wiegen als die Nachteile inklusive der Transferzahlungen an den Süden.
Ob Letzteres der Fall ist kann angesichts der Komplexität der wirtschaftlichen Zusammenhänge niemand mit Sicherheit sagen. Dies gilt für die Vergangenheit des Euroraums und erst recht für die Zukunft.
Die Politik wäre gut beraten, diese Unklarheiten und Risiken offen und ehrlich anzusprechen, da diese ohnehin spätestens bei der nächsten Wirtschaftskrise auf den Tisch kommen werden. Wenn die Wähler dann den Eindruck haben, nicht vollständig informiert und demokratisch beteiligt worden zu sein, werden sie möglicherweise der gemeinsamen Währung ihr Vertrauen entziehen.
Die ökonomischen und politischen Folgen für das europäische Projekt wären zweifellos katastrophal. Und hierfür wäre eine Politik wesentlich mitverantwortlich, die den Wählern keinen reinen Wein einschenkt und ihnen die direkte demokratische Beteiligung an der Weiterentwicklung der Eurozone verweigert.