Der Blogbeitrag vom Januar dieses Jahres kommt zum Ergebnis, dass die Eurozone an dauerhaften real- und finanzwirtschaftlichen Ungleichgewichten leidet. Um ihre wirtschaftliche, aber auch politische Stabilität dennoch zu gewährleisten, wurde seit der globalen Finanzkrise der Jahre 2007 und folgende ein komplexes System direkter und indirekter Transferleistungen und Haftungsvergemeinschaftungen installiert (z.B. Europäischer Stabilitätsmechanismus, Staatsanleihenkäufe der EZB).
Wesentlicher Garant einer stabilen Eurozone und damit auch der EU ist Deutschland als wirtschaftlich größtes Land mit vergleichsweise soliden Staatsfinanzen. Dabei leistet es aufgrund seiner Größe nicht nur in absoluten Zahlen hohe Beiträge, sondern oftmals auch in Relation zur Einwohnerzahl. Beispielsweise hat eine Untersuchung des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) ergeben, dass Deutschland im Jahre 2023 mit rund 17,4 Mrd. Euro der größte Beitragszahler des EU-Haushaltes war. Aber auch mit seinem Pro-Kopf-Beitrag von 206 Euro lag es nach Irland mit 236 Euro an zweiter Stelle der 27 EU-Mitgliedstaaten (Busch et al., 2024).
Andererseits tragen die nächstgrößten Volkswirtschaften Frankreich, Italien und Spanien aufgrund ihrer hohen Staatsverschuldung eher zur Destabilisierung der Eurozone bei (siehe Abb. 1). Entsprechend sind auch ihre direkten finanziellen Beiträge niedriger als die deutschen. Berücksichtigt man beim EU-Haushalt des Jahres 2023 noch die umfangreichen Mittel des Corona-Wiederaufbaufonds ergibt sich folgendes Bild: Deutschland ist Nettozahler mit 0,66 % seines Bruttonationaleinkommens (BNE), Frankreich mit deutlich niedrigeren 0,26 % des BNE und Italien und Spanien sind sogar Nettoempfänger mit 0,22 % bzw. 0,28 % ihres BNE (das BNE entspricht der Wirtschaftsleistung aller Inländer) (Busch et al., 2024, S. 17).
Vor diesem Hintergrund ist es nachvollziehbar, wenn bei der gegenwärtigen politischen Diskussion um die Aufweichung oder gar Abschaffung der deutschen Schuldenbremse die Stabilität von Eurozone und EU als Argument für ihr Fortbestehen angeführt wird (z.B. Christian Linder in der Neuen Osnabrücker Zeitung, 2024). Schließlich ist Deutschland aufgrund seiner Größe und seiner sehr hohen Bonität Hauptgarant der gemeinsamen Schulden.
Neben ihrer Funktion als europäischer „Stabilitätsanker“ wird als Argument für die Schuldenbremse ins Feld geführt, dass sie die Politik zur Haushaltsdisziplin zwinge und eine unproduktive Ausweitung der staatlichen Konsumausgaben verhindere (ifo Institut, 2023).
Ein wesentliches Gegenargument ist, dass eine Aussetzung der Schuldenbremse notwendig sei, um den hohen Investitionsbedarf in Infrastruktur und die ökologische Transformation der Wirtschaft umzusetzen (ifo Institut, 2023).
Diesen und anderen Gegenargumenten können im Kontext von Euro und EU weitere hinzugefügt werden.
Zum einen signalisiert das Einhalten der Schuldenbremse in Deutschland den Regierungen Frankreichs, Italiens und Spaniens, dass deren eigene Haushaltskonsolidierung weniger wichtig ist. Ein Aufheben der deutschen Schuldenbremse könnte deshalb die Anreize der anderen Regierungen steigern, ihre Sparanstrengungen zu erhöhen. Angesichts der im Vergleich niedrigen deutschen Schuldenquote wäre die deutsche Kreditwürdigkeit trotzdem kurz- bis mittelfristig nicht gefährdet und insgesamt könnte die europäische Finanzstabilität erhöht werden, weil Frankreich, Italien und Spanien verstärkt ihre Schulden abbauen.
Zum anderen könnte durch die Erhöhung finanzieller Spielräume in die Leistungsbereitschaft der Bürger investiert werden, indem Steuern- und Sozialabgaben gesenkt und das Rentenniveau nach oben angepasst werden. Eine Erhöhung des Rentenniveaus ist zwar zunächst eine konsumtive Ausgabe, sie wäre aber gleichzeitig ein anreizförderndes Signal an die Erwerbstätigen, dass sich ihre Sozialbeiträge künftig in angemessener Weise auszahlen werden.
Diese Signale würden gleichzeitig Eurozone und EU politisch stabilisieren, da die Zustimmung zu diesen Institutionen wesentlich an der wirtschaftlichen Zufriedenheit der Wähler hängt. Dies ist auch deshalb geboten, weil Deutschland im Hinblick auf die genannten Faktoren gegenüber Frankreich, Italien und Spanien insgesamt schlechter abschneidet. Es wird auf Dauer den deutschen Wählern schwer zu vermitteln sein, warum sie auch mit Hilfe hoher Steuern und Sozialabgaben und niedriger Renten die Staatsfinanzen für Länder stabilisieren sollen, deren Bürger in dieser Hinsicht oftmals bessergestellt sind.
Im Folgenden werden die entsprechenden Daten für Deutschland, Frankreich, Italien und Spanien vorgestellt und diskutiert.
In der jährlichen Publikation „Taxing Wages“ der OECD (2024) werden für die 38 Mitgliedstaaten die Steuer- und Abgabenlast der Gehälter abhängiger Beschäftigter miteinander verglichen. Die folgenden Abbildungen (Abb. 2 und 3) zeigen die effektive prozentuale Belastung eines Single sowie eines verheirateten Paars mit zwei Kindern, wobei beide Partner voll erwerbstätig sind. Es wird unterstellt, dass jeweils das durchschnittliche Bruttogehalt verdient wird. Die Belastung enthält die Steuern sowie den Arbeitnehmeranteil an den Sozialabgaben abzüglich Zahlungen des Staates an die Beschäftigten (in der Regel handelt es sich um Kindergeld).
In beiden Fällen ist die Belastung des Durchschnittsverdieners in Deutschland offensichtlich signifikant höher als in den drei anderen Staaten. Und auch bei allen anderen Konstellationen, die die OECD vergleicht, schneidet der deutsche Arbeitnehmer immer am schlechtesten ab, z.B. ein Single mit zwei Kindern und 67% des Durchschnittgehalts: Deutschland 14,2 %, Frankreich -7,1% (also eine Entlastung), Italien -1,3 % und Spanien 3,7 %.
In einer anderen Publikation vergleicht die OECD (2023) die Rentensysteme und das daraus folgende Rentenniveau in ihren Mitgliedstaaten. Berücksichtigt werden alle gesetzlich vorgeschriebenen Elemente für Beschäftigte des privaten Sektors.
In der folgenden Abbildung (Abb. 4) wird die Nettorentenhöhe in Prozent des Nettolohns angegeben. Die Angaben beziehen sich auf das erwartete Rentenniveau eines 22jährigen, der im Jahre 2022 in den Arbeitsmarkt eingetreten ist. Es wird unterstellt, dass die Person bis zum Beginn des gesetzlichen Renteneintrittsalters immer das Durchschnittsgehalt verdient.
Auch hier zeigt sich eine deutliche Schlechterstellung eines deutschen Arbeitnehmers. Diese Einschätzung ändert sich auch dann nicht wesentlich, wenn man das gesetzliche Renteneintrittsalter mitberücksichtigt: In Deutschland ist es mit 67 Jahren geringer als in Italien mit 71, allerdings beträgt es für Frankreich und Spanien nur 65 Jahre.
Einschränkend ist anzumerken, dass Ländervergleiche bezüglich des Rentenniveaus sehr schwierig sind, weil es von vielen individuelle Faktoren sowie länderspezifischen Regelungen abhängt. Beispielsweise sind in Österreich auch Beamte Teil des allgemeinen gesetzlichen Rentenversicherungssystems (MDR.de, 2023), während Beamte in Deutschland ihre Pension direkt vom Staat erhalten und deshalb nicht in obiger Abbildung enthalten sind.
Dennoch gibt es eine Möglichkeit, das Gesamt-Rentenniveau eines Landes abzuschätzen, indem man die staatlichen Gesamtausgaben für die Rentenzahlungen betrachtet. Die folgende Abbildung (Abb. 5) zeigt die Nettoausgaben des Staates im Jahr 2019 für Rentenzahlungen in Prozent des BIP (Brutto-Rentenzahlungen abzüglich der von den Beziehern zu entrichtenden Steuern und Abgaben) (OECD, 2023).
Die Zahlen zeigen, dass sowohl in Frankreich als auch in Italien und Spanien sozialpolitisch ein größerer Wert auf die Rentenhöhe gesetzt wird als in Deutschland.
Von politischer Seite und von Teilen der Ökonomen werden die höheren Beiträge Deutschlands zur Stabilität von Eurozone und EU damit gerechtfertigt, dass Deutschland von diesen Institutionen in besonderem Maße profitiere (siehe z.B. Capital (2019), Hamdani (2024), RedaktionsNetzwerk Deutschland (2024)). Aus Sicht dieser Argumentation wären mit den höheren Beiträgen zusammenhängende höhere Quoten an Steuern und Sozialabgaben sowie geringere Rentenquoten vertretbar, da das allgemeine Gehaltsniveau aufgrund von Euro und EU höher ist als in anderen Ländern.
Dieser Sichtweise ist entgegenzuhalten, dass es unter Ökonomen höchst umstritten ist, ob Deutschland tatsächlich mehr als andere Länder von Europa profitiert (siehe z.B. Becker & Fuest, 2017). Das liegt grundsätzlich an der hohen Zahl an Einflussfaktoren und deren komplexen Wechselwirkungen und kann daher vermutlich nie eindeutig geklärt werden.
Doch selbst wenn man feststellen könnte, dass Deutschland in besonderem Maß profitiert, folgt daraus keine Pflicht zu dauerhaften Ausgleichzahlungen. Es kann nicht Sinn und Zweck einer Gemeinschaft souveräner Staaten sein, permanente Umverteilungsmechanismen einzurichten, auf denen sich die Empfänger ausruhen können. Ziel muss es sein, dass die weniger leistungsfähigen Staaten eigenverantwortlich handeln und ihre Wettbewerbsfähigkeit durch eigene Anstrengungen steigern.
Sofern also das Aufheben oder die Lockerung der Schuldenbremse erforderlich wäre, um die ehemaligen und gegenwärtigen Leistungsträger der deutschen Gesellschaft ökonomisch besser zu stellen, sollte entsprechend gehandelt werden. Die positiven Anreizeffekte würden EU und Eurozone politisch und wirtschaftlich nachhaltig stärken.
Literaturverzeichnis
Becker, J., & Fuest, C. (2017, Februar 12). Profitiert Deutschland wirklich vom Euro? https://www.ifo.de/medienbeitrag/2017-02-12/profitiert-deutschland-wirklich-vom-euro
Busch, B., Kauder, B., & Sultan, S. (2024). Die EU und das Geld: Wer bezahlt, wer bekommt? (34/2024; IW Report). Institut der deutschen Wirtschaft (IW).
Capital. (2019, April 24). „Deutschland ist nicht der alleinige Profiteur des Euros“. https://www.capital.de/wirtschaft-politik/deutschland-ist-nicht-der-alleinige-profiteur-vom-euro
Hamdani, I. (2024, Juni 7). Ist die EU ein Verlustgeschäft für Deutschland? tagesschau.de. https://www.tagesschau.de/europawahl/eu/finanzen-106.html
ifo Institut. (2023, Dezember 8). Die deutsche Schuldenbremse – Stabilitätsanker oder Investitionsblocker? https://www.ifo.de/fakten/2023-12-08/die-deutsche-schuldenbremse-stabilitaetsanker-oder-investitionsblocker
MDR.de. (2023, März 24). Wut über Rente mit 64 in Frankreich – Rentensysteme in Europa im Vergleich. https://www.mdr.de/nachrichten/deutschland/politik/frankreich-rente-alter-laender-europa-vergleich-102.html
Neue Osnabrücker Zeitung. (2024, Juni 24). Christian Lindner im Interview mit der Neuen Osnabrücker Zeitung. Bundesministerium der Finanzen. https://www.bundesfinanzministerium.de/Content/DE/Interviews/2024/2024-06-24-noz.html
OECD. (2023). Pensions at a Glance 2023: OECD and G20 Indicators. OECD Publishing, Paris. https://doi.org/10.1787/678055dd-en
OECD. (2024). Taxing Wages 2024: Tax and Gender through the Lens of the Second Earner. OECD Publishing, Paris. https://doi.org/10.1787/dbcbac85-en
RedaktionsNetzwerk Deutschland. (2024, August 13). EU-Haushalt: Deutschland zahlt 19,7 Mrd. Euro – wer profitiert davon? https://www.rnd.de/wirtschaft/eu-haushalt-deutschland-zahlt-19-7-mrd-euro-wer-profitiert-davon-YMCCTKDPIVNXJKX74SMECTMDUM.html