Die aktuelle Lage
Wenn man Anfang des Jahres 2024 auf die Geschichte der Eurozone zurückblickt, kann man es als positiv bewerten, dass der Währungsraum bisher zwei existenzgefährdende Krisen überlebt hat: die Euro-Schuldenkrise mit ihrer Hochphase in den Jahren 2010 bis 2012 und die COVID-19-Pandemie der Jahre 2020 bis 2023 (am 5. Mai 2023 erklärte die WHO das Ende einer „gesundheitlichen Notlage internationaler Tragweite“; WHO, 2023).
Des Weiteren ist eine Normalisierung der Inflationsrate in Sicht, deren extreme Höhe im Jahre 2022 zum Teil auf die drastischen Energiepreissteigerungen in Gefolge des Ukraine-Krieges zurückzuführen war (siehe Abb. 1). Entsprechend stellen erneute Engpässe in der Energieversorgung aufgrund geopolitischer Entwicklungen ein Hauptrisiko für diese günstige Inflationsvorhersage dar, v.a. im Hinblick auf mögliche Zuspitzungen der Lage in der Ukraine oder im Nahen Osten.
Die Schuldenquoten (Gesamtverschuldung in % des BIP) der vier ökonomisch größten und damit für die Stabilität der Eurozone wichtigsten Staaten Deutschland, Frankreich, Italien und Spanien, haben sich nach einer Corona-bedingten Spitze im Jahr 2020 stabilisiert, wenn auch auf hohem Niveau (siehe Abb. 2). Allerdings ist die Stabilisierung im Wesentlichen auf die Tatsache zurückzuführen, dass ein Großteil der Staatsschulden noch im Tiefzinsumfeld der vergangenen Jahre aufgenommen wurde und die Inflation das Verhältnis BIP zu Schuldenstand günstig beeinflusst („Zins-Wachstums-Differenzial“).
Insgesamt schätzt die EZB die Gefahren für die Finanzstabilität im Euroraum in der kurzen Frist als handhabbar ein. Mittelfristig ist hingegen mit zusätzlichen Risiken zu rechnen (EZB, 2023, S. 18 – 20):
- Aufgrund größerer primärer Haushaltsdefizite (ohne Schuldendienst) und einer Abnahme des oben genannten günstigen Zins-Wachstums-Differenzials, ist im Durchschnitt mit einem erhöhten Pfad der staatlichen Schuldenquoten zu rechnen – im Vergleich zum Zeitraum vor der Pandemie.
- Die restriktivere Geldpolitik der EZB, also der Nettoverkauf von Staatsanleihen zusammen mit einem gestiegenen Zinsniveau, könnte die Refinanzierungsfähigkeit hochverschuldeter Staaten auf den Kapitalmärkten beeinträchtigen. Insbesondere dann, wenn keine glaubhafte fiskalische Konsolidierungspolitik betrieben wird.
- Regierungen könnten keine glaubhafte fiskalische Konsolidierungspolitik betreiben, weil sie versuchen, angesichts sinkender Wachstumsraten mit zusätzlichen Ausgaben die Wirtschaft zu stimulieren (siehe Abb. 3).
Wenn man die langfristigen Gesamtrisiken für die Stabilität der Eurozone betrachtet, ergibt sich ebenfalls ein pessimistisches Bild.
Grundsätzlich kann ein anfänglich sehr heterogener Währungsraum nur dann dauerhaft ökonomisch und politisch überleben, wenn hinsichtlich der finanz- und realwirtschaftlichen Situation eine Angleichung durch Integration der Produkt-, Arbeits- und Kapitalmärkte stattfindet (siehe z.B. Krugman, Obstfeld & Melitz, 2012). Ein wesentlicher Grund ist, dass nur in diesem Fall geldpolitische Entscheidungen für alle Mitgliedstaaten gleichermaßen passend sind.
Kommt es beispielsweise zu einem finanz- und/oder realwirtschaftlichen „Schock“ wie aufgrund der globalen Finanzkrise der Jahre 2007 und folgende, kann die Zentralbank nicht in optimaler Weise reagieren, wenn die Staaten zu unterschiedlich sind. Aus Sicht Griechenlands wäre damals vermutlich eine erhebliche Abwertung des Euros wünschenswert gewesen, um die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft wiederherzustellen und die Staatsschulden zu bezahlen. Die EZB konnte keine entsprechende Politik verfolgen, weil sie die Situation des Währungsraums insgesamt und nicht nur diejenige Griechenlands berücksichtigen musste.
Werden entscheidende makroökomische Kennzahlen wie internationale Wettbewerbsfähigkeit (gemessen in Lohnstückkosten, siehe Abb. 4), Pro-Kopf-Einkommen (BIP pro Kopf, siehe Abb. 5) oder Staatsschuldenquote (siehe Abb. 2) herangezogen, ist leider keine Angleichung zwischen Deutschland einerseits und Frankreich, Italien und Spanien andererseits festzustellen, sondern eher eine Verstetigung der Ungleichgewichte.
Die Eurozone konnte vermutlich nur deshalb die globale Finanzkrise und die Pandemie überstehen, weil die real- und finanzwirtschaftlichen Unterschiede durch folgende finanzwirtschaftliche Maßnahmen ausgeglichen wurden und werden:
- Direkte gemeinsame Schuldenaufnahme inklusive Haftungsvergemeinschaftung (z.B. durch den Europäischen Stabilitätsmechanismus ESM) sowie Transferzahlungen (z.B. nicht rückzahlbare Zuschüsse in Höhe von 390 Mrd. Euro im Rahmen des insgesamt 750 Mrd. Euro umfassenden „Corona-Wiederaufbaufonds“ (Next Generation EU); BMF, 2020, S. 7 -13).
- Indirekte gemeinsame Schuldenaufnahme sowie Haftungsvergemeinschaftung durch die umfangreichen Staatsanleihen-Aufkäufe der EZB von rd. 4.900 Mrd. Euro (rd. 3.200 Mrd. Euro im Rahmen der „Asset purchase programmes“ zuzüglich rd. 1.700 Mrd. Euro im Rahmen des „Pandemic emergency purchase programme“; Stand Ende November; EZB, 2024a, 2024b).
- Indirekte Unterstützung hochverschuldeter Staaten durch die zinssenkende und inflationstreibende expansive Geldpolitik der EZB: Niedrige Zinsen erleichtern die Schuldenaufnahme und Inflation entwertet bestehende Staatsschulden (die Bundesbank (2023, S. 15 -53) identifiziert nicht nur nicht-monetäre Faktoren wie die Energiepreise, sondern auch die expansive Geldpolitik der EZB als einen Treiber der Inflation des Jahres 2022).
Schlussfolgerung und Bewertung
Nach 25 Jahren Euro (seit 1. Januar 1999 zunächst nur als Buchgeld) und zwei exitenzgefährdenden Krisen, scheinen sich die Befürchtungen der Kritiker der Euro-Rettungspolitik zu bewahrheiten (siehe z.B. Feld, Schmidt, Schnabel & Wieland, 2017):
Gemeinsame Schuldenaufnahme, gemeinsame Haftung und Staatsanleihenkäufe durch die EZB haben offenbar nicht für diejenige Entlastung gesorgt, die von den ökonomisch schwächeren Staaten des „europäischen Südens“ genutzt worden wäre, um sich durch Reformen dem ökonomisch stärkeren Deutschland anzunähern. Es scheint eher das Gegenteil eingetreten zu sein, nämlich dass der Reformeifer nachgelassen hat, weil die Regierungen die Unterstützungsmaßnahmen mehr oder weniger bewusst einkalkuliert und deshalb für die Wähler schmerzliche Reformen unterlassen haben.
Besonders deutlich wird das an der Staatsschuldenquote. Wie in Abb. 2 ersichtlich, hat nur Deutschland eine Kehrtwende vollzogen, nachdem die staatliche Verschuldung weltweit aufgrund der globalen Finanzkrise ab 2009 erheblich gestiegen ist (Bankenrettung, Konjunkturpakete). Deutschland nähert sich mittlerweile wieder dem offiziellen 60 % – Ziel der Euroverträge an, während es den Eindruck macht, als hätten Frankreich, Italien und Spanien einen dauerhaft höheren Verschuldungspfad eingeschlagen.
Die Frage, wie lange solche ökonomischen Ungleichgewichte bestehen und letztlich durch Transferleistungen überdeckt werden können, ohne dass die Eurozone auseinanderbricht, lässt sich natürlich nur schwer beantworten.
Allerdings könnte der ökonomische Druck erheblich steigen, weil Deutschlands stabilisierende Wirkung künftig nachlässt. Der Grund hierfür könnte die politisch gewollte Verknappung des Energieangebotes sein (z.B. der Atom- und Kohleausstieg), die bereits zu einer ernstzunehmenden Diskussion über eine bevorstehende „Deindustrialisierung“ Deutschlands geführt hat (siehe z.B. Höpner, Rauffmann & Wermke, 2023 oder Hüther et al., 2023).
Weiterhin steigt der politische Druck, v.a. in den entscheidenden Staaten Frankeich und Deutschland durch die zunehmende Stärke eurokritischer bis -ablehnender politischer Kräfte (Rassemblement National in Frankreich und AfD in Deutschland). Immer mehr Wähler begreifen wohl, dass die Umverteilungen in der Eurozone nicht etwa von ärmeren zu reicheren Bürgern erfolgen, sondern von weniger verschuldeten zu stärker verschuldeten Staaten (siehe z.B. Bundesrechnungshof, 2021), womit sich ein Denken der politischen Entscheidungsträger offenbart, das sich nicht am Bürger als eigentlichem Souverän orientiert, sondern am Staat an sich.
Sollten sich die eurokritischen Kräfte in den Wahlen der nächsten Zeit durchsetzen, könnte das Überleben der Eurozone wieder auf die Tagesordnung der öffentlichen Debatte kommen.
Literaturverzeichnis
BMF. (2020). BMF-Monatsbericht. August 2020. Bundesministerium der Finanzen. Verfügbar unter: https://www.bundesfinanzministerium.de/Monatsberichte/2020/08/Downloads/monatsbericht-2020-08-deutsch.pdf?__blob=publicationFile&v=4
Bundesbank. (2023). Monatsbericht. Januar 2023 (75. Jahrgang Nr. 1). Deutsche Bundesbank. Verfügbar unter: https://www.bundesbank.de/resource/blob/903314/06e0e879c8517b8c11aa8a03ae1df3ff/mL/2023-01-monatsbericht-data.pdf
Bundesrechnungshof. (2021, 11. März). Bericht nach § 99 BHO zu den möglichen Auswirkungen der gemeinschaftlichen Kreditaufnahme der Mitgliedstaaten der Europäischen Union auf den Bundeshaushalt (Wiederaufbaufonds). Bundesrechnungshof. Verfügbar unter: https://www.bundesrechnungshof.de/SharedDocs/Downloads/DE/Berichte/2021/eu-wiederaufbaufonds-volltext.pdf?__blob=publicationFile&v=1
EZB. (2023, November). Financial Stability Review. Europäische Zentralbank. Verfügbar unter: https://www.ecb.europa.eu/pub/pdf/fsr/ecb.fsr202311~bfe9d7c565.en.pdf
EZB. (2024a). Asset purchase programmes, Europäische Zentralbank. Verfügbar unter: https://www.ecb.europa.eu/mopo/implement/app/html/index.en.html
EZB. (2024b). Pandemic emergency purchase programme (PEPP), Europäische Zentralbank. Verfügbar unter: https://www.ecb.europa.eu/mopo/implement/pepp/html/index.en.html
Feld, L. P., Schmidt, C. M., Schnabel, I. & Wieland, V. (2017). Die Balance zwischen Eigenverantwortung und gemeinschaftlichem Handeln für ein starkes Europa. Wirtschaftsdienst, 97, 477–483. https://doi.org/10.1007/s10273-017-2164-8
Höpner, A., Rauffmann, T. & Wermke, I. (2023, 17. November). Deindustrialisierung. Viele Firmen prüfen Verlagerung der Produktion. Handelsblatt. Verfügbar unter: https://www.handelsblatt.com/unternehmen/industrie/deindustrialisierung-viele-firmen-pruefen-verlagerung-der-produktion/29472118.html
Hüther, M., Bialek, S., Schaffranka, C., Schnitzer, M., Müller, S., Heymann, E. et al. (2023). Deindustrialisierung: Schreckgespenst oder notwendiger Schritt im Strukturwandel der deutschen Wirtschaft. ifo Schnelldienst, 76, 3–30. 03/2023.
Krugman, P. R., Obstfeld, M. & Melitz, M. J. (2012). International Economics. Theory & Policy (9th Global Edition). Harlow: Pearson.
WHO. (2023, 5. Mai). Statement on the fifteenth meeting of the IHR (2005) Emergency Committee on the COVID-19 pandemic, World Health Organization. Verfügbar unter: https://www.who.int/news/item/05-05-2023-statement-on-the-fifteenth-meeting-of-the-international-health-regulations-(2005)-emergency-committee-regarding-the-coronavirus-disease-(covid-19)-pandemic